In einer Welt voller schreiender Kleinkinder auf Spielplätzen, im Supermarkt oder im Wartezimmer beim Kinderarzt klingt es fast wie ein Wunder: Eine Mutter behauptet, ihr zweijähriger Sohn würde nie schreien. Keine Wutanfälle, kein Trotz, kein Geschrei – nur ein ruhiges, ausgeglichenes Kind. In Elternforen sorgt diese Aussage für Aufsehen. Bewunderung mischt sich mit Skepsis. Kann das wirklich sein?

Zwischen Ideal und Realität

Zweijährige sind bekanntlich in der sogenannten „Autonomiephase“. Sie wollen alles selbst machen, ihre Gefühle sind stark – und ihre Fähigkeit, diese zu regulieren, ist noch gering. Schreien ist in dieser Entwicklungsphase vollkommen normal. Es ist oft Ausdruck von Überforderung, Frust oder schlicht dem Wunsch, wahrgenommen zu werden.

Wenn nun eine Mutter sagt, ihr Kind schreie nie, stellen sich viele Fragen: Ist ihr Sohn tatsächlich außergewöhnlich ruhig? Oder ist ihr Verständnis von „Schreien“ einfach ein anderes? Vielleicht überhört sie manches – oder beschreibt eine Momentaufnahme, die nicht die ganze Wahrheit zeigt?

Was steckt dahinter?

Psycholog:innen und Pädagog:innen raten zur Vorsicht bei solchen Aussagen. Einerseits kann es natürlich sein, dass ein Kind von Natur aus ruhiger ist, eine sehr sensible Mutter früh auf Bedürfnisse reagiert oder eine besonders stressarme Umgebung herrscht. Andererseits besteht auch die Möglichkeit, dass das Kind gelernt hat, seine Emotionen zu unterdrücken – etwa aus Angst, nicht akzeptiert zu werden.

„Kinder, die nie schreien, geben uns ebenfalls Signale – nur vielleicht auf eine andere, leisere Weise“, erklärt eine Kinderpsychologin. „Wenn ein Zweijähriger überhaupt keine Wut zeigt, kann das auch auf emotionale Anpassung hindeuten.“

Der gesellschaftliche Druck

Hinter der Aussage „Mein Kind schreit nie“ steckt häufig mehr als nur Beobachtung. Mütter stehen unter großem gesellschaftlichem Druck, die perfekte Elternrolle zu erfüllen – ruhig, geduldig, kompetent. Ein „pflegeleichtes“ Kind wirkt da wie der ultimative Beweis guter Erziehung. Doch solche Aussagen setzen andere Eltern unter Druck, die tagtäglich mit Trotzanfällen und Tränen konfrontiert sind.

Warum das Schreien dazugehört

Schreien, Weinen, Toben – all das ist Teil eines gesunden kindlichen Ausdrucks. Kinder lernen dadurch, mit Frustration umzugehen, Bedürfnisse zu formulieren und sich in einer komplexen Welt zu orientieren. Es ist anstrengend, aber wichtig – für Eltern und Kind.

Die Vorstellung vom immer ruhigen Kleinkind mag verlockend sein, ist aber weder realistisch noch erstrebenswert. Ein Kind, das sich erlaubt, laut zu sein, zeigt Mut zur Emotion. Und Eltern, die das aushalten und begleiten, leisten wertvolle Bindungsarbeit.

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