Er ist 59 Jahre alt, lebt allein, war früher in einem technischen Beruf tätig, zuverlässig, gewissenhaft. Heute verbringt er täglich mehrere Stunden damit, seine Toilette zu reinigen – bis zu zehnmal am Tag. Nicht aus Langeweile. Nicht aus Sauberkeitswahn. Sondern aus Angst.
Angst vor Mikroben, vor Bakterien, vor unsichtbarem Schmutz, der krank machen könnte. Angst, die stärker ist als jede Logik – und leiser als viele denken.
„Ich weiß, dass es übertrieben ist – aber ich kann nicht anders“
Er erzählt ruhig, fast schüchtern. Kein typischer „Putzfanatiker“, wie manche das Klischee im Kopf haben. Sondern ein Mann, der weiß, dass sein Verhalten ihn einschränkt – aber sich machtlos dagegen fühlt.
„Ich wasche das WC, den Sitz, den Spülknopf, den Boden drumherum. Jedes Mal, wenn ich es benutze. Manchmal auch zwischendurch, nur weil mir plötzlich der Gedanke kommt, dass es vielleicht nicht sauber genug ist.“
Die Angst kam schleichend, erzählt er. Früher habe er auch auf öffentliche Toiletten gehen können. Heute meidet er sie vollständig. Reisen? Undenkbar. Besuch? Viel zu stressig. Jemand könnte „etwas einschleppen“, das ihn krank macht.
Wenn Sauberkeit zur Zwangshandlung wird
Was viele nicht sehen: Hinter solchen Ritualen steckt oft keine Obsession für Ordnung – sondern ein psychischer Leidensdruck. Mediziner sprechen in solchen Fällen von einer Zwangsstörung, genauer: Reinigungszwang.
Betroffene fühlen sich gezwungen, bestimmte Handlungen immer wieder auszuführen – nicht, weil sie Freude daran haben, sondern weil sie sich sonst von Angst oder Ekel überflutet fühlen.
Der stille Rückzug aus dem Alltag
„Ich traue mich nicht mehr, spontan das Haus zu verlassen“, sagt er. „Was, wenn ich dringend auf Toilette muss? Und was, wenn die nicht sauber ist?“ Die Gedanken lassen ihn nicht los. Stattdessen plant er alles penibel, kontrolliert seinen Tagesablauf bis ins Detail – alles, um sich sicher zu fühlen.
Doch sicher fühlt er sich nie wirklich. Nach dem Putzen ist da für einen Moment Ruhe. Dann kommen wieder Zweifel: „Habe ich etwas übersehen?“
Hilfe annehmen – ein schwerer Schritt
Er weiß, dass es so nicht weitergehen kann. Aber Hilfe zu suchen ist nicht leicht. „Man schämt sich. Wer redet schon gern darüber, dass er zehnmal täglich die Toilette schrubbt?“ Noch dazu ein Mann in seinem Alter – da wird Schwäche oft verdrängt oder verschwiegen.
Doch genau das ist falsch: Zwangsstörungen sind behandelbar. Es gibt spezialisierte Psychotherapeut:innen, die mit Betroffenen Wege aus dem Kreislauf erarbeiten – mit Geduld, Verständnis und Schritt für Schritt.
Ein Appell an Mitgefühl statt Spott
Wer darüber lacht oder die Augen verdreht, sieht nicht, was dahinter steckt: Ein Mensch, der leidet. Nicht an Schmutz – sondern an der ständigen Angst vor dem, was er nicht kontrollieren kann. Und der versucht, mit übermäßiger Kontrolle irgendwie zurechtzukommen.
Was er sich wünscht? Keine Mitleidstour. Nur Verständnis. Und vielleicht irgendwann die Freiheit, nicht mehr an die Toilette denken zu müssen.
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