Von außen betrachtet wirkt das Haus von Karin L. wie jedes andere in der ruhigen Vorstadtsiedlung: gepflegter Garten, weiße Gardinen, eine Bank vor der Haustür. Karin ist 60 Jahre alt, war früher Lehrerin, lebt allein, seit ihr Mann vor vier Jahren gestorben ist. Doch hinter der sauberen Fassade verbirgt sich eine Realität, die viele nicht verstehen – und über die kaum jemand spricht.
„Sie hatte alles“
Karin hat eine Tochter. Julia ist 28. Sie war ein sensibles Kind, klug, etwas still vielleicht. „Nie auffällig, nie wild“, sagt Karin. Es gab keine Gewalt in der Familie, keine Sucht, keine offenen Brüche. „Wir waren keine perfekte Familie, aber eine gute.“ Julia machte Abitur, begann zu studieren, brach ab, zog in eine WG, dann wieder nach Hause – und dann, irgendwann, verschwand sie.
Heute lebt Julia auf der Straße. Freiwillig. Nicht als Folge einer Sucht, nicht aus akuter Not, sondern aus einer bewussten Entscheidung heraus. Sie schläft in Parks, schlägt sich mit Gelegenheitsarbeiten durch, nimmt manchmal Essensspenden an, lehnt Hilfe vom Amt ab – und auch von ihrer Mutter.
Zwischen Nähe und Ohnmacht
„Ich sehe sie manchmal. Ganz selten. Und jedes Mal bricht mir das Herz“, sagt Karin. Sie hat aufgehört, zu diskutieren. Julia reagiert auf Vorwürfe mit Rückzug. Auf Hilfsangebote mit einem Lächeln, das sagt: Ich will das nicht.
„Ich habe alles versucht“, sagt Karin. „Wohnung, Therapie, Gespräche. Ich habe geweint, geschrien, gebettelt.“ Aber Julia will nicht zurück in ein Leben mit vier Wänden und Regeln. Sie nennt es „bürgerliche Gefangenschaft“. Sie sagt, das Leben auf der Straße mache sie frei – so frei, wie sie es in ihrer Kindheit nie war.
Was, wenn der Schmerz nicht sichtbar ist?
Die Nachbarn wissen wenig. Einige ahnen es, andere fragen direkt: „Was macht eigentlich Ihre Tochter?“ Karin weicht oft aus. „Sie reist viel“, sagt sie manchmal. Manchmal sagt sie auch gar nichts. Denn wie erklärt man etwas, das man selbst nicht begreift?
Psychologen sprechen in solchen Fällen von „Selbstverwirklichung außerhalb gesellschaftlicher Normen“. Doch für eine Mutter klingt das wie ein theoretisches Trostpflaster. Für Karin ist es vor allem eines: tägliche Sorge, ständige Angst, stille Scham.
Ein offenes Ende
Karin stellt jeden Dezember ein Päckchen auf die Fensterbank. Immer mit demselben Inhalt: ein Paar warme Socken, eine Karte, ein Foto aus Kindertagen. Manchmal holt Julia es ab, manchmal bleibt es unangetastet bis zum Frühling.
„Ich habe gelernt, sie nicht mehr retten zu wollen“, sagt Karin. „Aber ich habe nie aufgehört, sie zu lieben.“
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