Anna war eine ordnungsliebende und disziplinierte Frau. Ihre Tage begannen früh, oft bevor die ersten Sonnenstrahlen die Dächer des Dorfes erreichten. Sie zog sich ihre makellose Uniform an und machte sich auf den Weg zu ihrer aktuellen Arbeitsstelle – dem großen, alten Haus der Familie Schneider.
Familie Schneider bestand aus den Eltern, Markus und Sabine, und ihren drei lebhaften Kindern: Leon, Emma und Sophie. Anna kannte die Familie in- und auswendig. Sie wusste, dass Leon seine Brotscheiben diagonal geschnitten haben wollte, Emma nur im Pyjama mit Dinosauriermuster einschlief und Sophie es liebte, mit den Kissen auf dem Sofa Festungen zu bauen.
Trotz der liebevollen Art, mit der sie die Kinder behandelte, empfand Anna eine tiefe innere Abneigung gegen den Lärm, das Chaos und die ständige Aufmerksamkeit, die die Kinder erforderten. Es war nicht der Lärm allein, sondern vielmehr die Unvorhersehbarkeit und das Durcheinander, die sie störten. Sie sehnte sich nach Stille und Ordnung, nach einem Leben ohne die ständig wechselnden Bedürfnisse und Launen der Kleinen.
Eines Morgens, als die Kinder lautstark durch das Haus tobten, starrte Anna gedankenverloren aus dem Fenster in den friedlichen Garten. Plötzlich spürte sie eine ungewöhnliche Ruhe in sich aufsteigen. Es war ein Augenblick der Klarheit. Sie erkannte, dass sie in all den Jahren ihre eigenen Bedürfnisse und Träume völlig vernachlässigt hatte. Sie erinnerte sich an ihre Jugend, als sie davon geträumt hatte, eine eigene kleine Buchhandlung zu eröffnen – einen Ort der Ruhe und des Wissens.
An diesem Abend, als die Kinder endlich eingeschlafen waren und das Haus in eine wohlige Stille gehüllt war, fasste Anna einen Entschluss. Sie würde nicht mehr gegen ihre eigenen Gefühle ankämpfen. Stattdessen würde sie sich selbst erlauben, die Veränderungen vorzunehmen, die sie so lange aufgeschoben hatte.
In den nächsten Wochen begann Anna, Pläne zu schmieden. Sie sprach mit einem alten Freund, der Anwalt war, und ließ sich über die notwendigen Schritte zur Eröffnung eines Geschäfts beraten. Sie suchte nach geeigneten Räumlichkeiten und fand schließlich einen kleinen Laden im Herzen des Dorfes, der zum Verkauf stand. Mit ihren Ersparnissen und einem kleinen Darlehen konnte sie den Laden erwerben und begann, ihn in ihre Traum-Buchhandlung zu verwandeln.
Als der Tag der Eröffnung kam, war Anna nervös, aber auch erfüllt von einer tiefen Zufriedenheit. Die Regale waren gefüllt mit Büchern aller Genres, und in einer Ecke des Ladens hatte sie eine gemütliche Leseecke mit bequemen Sesseln und warmem Licht eingerichtet. Die Dorfbewohner kamen zahlreich zur Eröffnung und gratulierten Anna zu ihrem mutigen Schritt.
Von diesem Tag an änderte sich Annas Leben grundlegend. Sie genoss die stille Gesellschaft der Bücher und die Gespräche mit den Kunden, die ihren Laden besuchten. Und obwohl sie nie eigene Kinder hatte, fand sie Freude darin, gelegentlich Workshops und Lesestunden für die Dorfkinder anzubieten – unter ihren Bedingungen und in ihrem eigenen Tempo.
Anna hatte endlich ihren Platz im Leben gefunden. Und während sie die Seiten eines neuen Buches aufschlug und den vertrauten Duft des Papiers einatmete, wusste sie, dass sie die richtige Entscheidung getroffen hatte.
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