In einer ruhigen Straße am Stadtrand lebt Anna M., eine 34-jährige Mutter, deren Erziehungsmethode für ihren einjährigen Sohn Ben derzeit für kontroverse Diskussionen sorgt – sowohl in ihrem privaten Umfeld als auch in sozialen Netzwerken. Der Grund: Wenn ihr Sohn weint, geht sie nicht zu ihm.

„Ich glaube fest daran, dass Kinder von Anfang an lernen müssen, mit ihren Emotionen selbstständig umzugehen“, sagt Anna ruhig, während sie eine Tasse Tee hält. „Ich möchte Ben nicht sofort trösten, weil ich möchte, dass er spürt, dass auch unangenehme Gefühle einen Platz haben dürfen – ohne dass sie sofort weggemacht werden müssen.“

Der Ansatz: Emotionale Selbstregulation ab dem ersten Jahr

Anna stützt sich bei ihrer Haltung auf eine radikale Interpretation sogenannter „selbstregulierender“ Erziehungsansätze. Sie ist überzeugt davon, dass ein Kind, das nicht sofort beruhigt wird, lernt, sich selbst zu beruhigen – und so langfristig widerstandsfähiger wird. „Wenn ich bei jedem kleinen Weinen da bin, vermittele ich ihm: Du brauchst jemanden von außen, um dich wieder sicher zu fühlen. Aber ich will, dass er seine eigene Sicherheit findet.“

Sie betont, dass es nicht um Ignoranz geht, sondern um Konsequenz. „Ich beobachte ihn dabei, achte auf seine Körpersprache. Aber ich gehe nicht rein, wenn er weint, es sei denn, ich habe das Gefühl, es geht wirklich um Schmerz oder Gefahr.“

Kritik von Experten

Nicht alle sehen das so gelassen. Kinderpsychologin Dr. Miriam Schuster warnt vor den Folgen einer solchen Herangehensweise. „Einjährige sind noch nicht in der Lage, sich selbst zu beruhigen. Das Nervensystem eines Babys ist darauf angewiesen, durch Bezugspersonen reguliert zu werden“, erklärt sie. „Wenn ein Kind weint und niemand kommt, verinnerlicht es nicht Stärke, sondern Hilflosigkeit.“

Studien zeigen, dass ein promptes Reagieren auf das Weinen eines Babys Vertrauen schafft – in die Umwelt und später auch in sich selbst. „Bindung entsteht nicht durch Distanz, sondern durch Verlässlichkeit“, so Dr. Schuster.

Eine bewusste Entscheidung – mit Folgen?

Anna ist sich der Kritik bewusst. „Ich weiß, dass viele das nicht verstehen. Und ich weiß, dass ich damit gegen die Norm gehe. Aber ich glaube, dass unsere Gesellschaft Kinder zu sehr betüttelt. Ich will Ben früh beibringen, dass das Leben auch mal unangenehm ist – und dass er das aushalten kann.“

Auf die Frage, ob sie nicht manchmal selbst darunter leidet, ihn weinen zu hören, sagt sie leise: „Natürlich tut das weh. Aber ich bleibe standhaft, weil ich an das große Ganze glaube.“

Ob Annas Methode langfristig zu einem emotional stabilen Erwachsenen führt oder emotionale Spuren hinterlässt, lässt sich jetzt noch nicht sagen. Sicher ist nur: Ihre Geschichte rüttelt an einem Tabu – und zwingt uns, über die Frage nachzudenken, wie viel Nähe, Trost und sofortige Reaktion ein Kind wirklich braucht.

Das könnte Sie auch interessieren: