Berlin, April 2025 – Julia (38) sitzt auf einer Parkbank am Rande des Volksparks. In der Hand hält sie eine halbvolle Thermoskanne, neben sich ihr einziger Besitz: ein alter Rucksack. Ihr Blick ist wach, aber müde. Nicht nur vom Schlafmangel – sondern vom Leben selbst. Julia ist obdachlos. Doch ihre Geschichte geht tiefer als das Etikett „wohnungslos“. Sie ist mehr als obdachlos.

Der Traum vom besseren Leben

„Ich kam nach Deutschland, weil ich ein neues Leben wollte“, erzählt Julia, die ursprünglich aus einem kleinen Ort in Osteuropa stammt. Vor rund zehn Jahren kam sie mit großen Hoffnungen: Arbeit finden, ein sicheres Zuhause, vielleicht eine eigene Familie. Und zunächst lief alles gut – sie arbeitete in der Reinigung, später in der Altenpflege. Sie lernte Deutsch, zahlte Steuern, war „gut integriert“, wie man so schön sagt.

Dann kam die Pandemie. Erst verlor sie ihre Stelle, dann zerbrach ihre Beziehung. Was folgte, war eine Spirale aus Jobverlust, Mietrückständen, Depression – und irgendwann stand sie buchstäblich auf der Straße. „Es ging so schnell. Ich konnte es selbst kaum glauben“, sagt sie leise.

Leben ohne Dach über dem Kopf

Seit über einem Jahr lebt Julia ohne festen Wohnsitz. Mal schläft sie in Notunterkünften, mal bei Bekannten auf der Couch, oft aber auch einfach draußen. „Am schlimmsten ist nicht die Kälte – es ist das Gefühl, nicht mehr zu existieren.“
Trotz allem versucht sie, sich ihren Alltag zu strukturieren: Duschen in der Notunterkunft, Essen in einer Suppenküche, lesen in der Bibliothek. „Bücher helfen mir. Sie erinnern mich daran, wer ich mal war. Und wer ich vielleicht wieder sein kann.“

Unsichtbar und unterschätzt

Julia gehört zu einer wachsenden Zahl von wohnungslosen Frauen in Deutschland. Doch sie sind oft unsichtbar – sie passen nicht ins gängige Bild des obdachlosen Mannes mit Alkoholproblem. „Wenn ich sage, dass ich obdachlos bin, schauen die Leute ungläubig. Sie denken: Du siehst doch normal aus. Aber was ist schon normal?“, fragt sie.

Für Julia ist Obdachlosigkeit kein persönliches Versagen, sondern ein strukturelles Problem. „Man fällt durch jedes Raster. Und wenn du einmal unten bist, wird’s schwer, wieder hochzukommen.“

Hoffnung trotz allem

Trotz aller Rückschläge hat Julia nicht aufgegeben. Sie hat Kontakt zu einer Sozialarbeiterin, macht ein Bewerbungscoaching mit und hofft auf einen Platz im betreuten Wohnen. Ihr Traum: wieder in der Pflege zu arbeiten. „Ich weiß, wie es ist, sich vergessen zu fühlen. Deshalb will ich für andere da sein.“

Sie schaut in den Himmel. „Ich habe gelernt: Selbst wenn du alles verlierst, kannst du deine Würde behalten. Und deinen Willen.“


Mehr als nur ein Einzelschicksal

Julias Geschichte ist erschütternd – aber kein Einzelfall. Sie zeigt, wie schnell Menschen durch äußere Umstände aus dem Leben gedrängt werden können. Und sie erinnert uns daran, dass hinter jedem obdachlosen Menschen ein Mensch steht: mit Träumen, mit Vergangenheit, mit Zukunft.
Mehr als obdachlos – Julia ist der Beweis dafür.

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