Für die 77-jährige Hannelore S. aus Mainz war ihr Enkel Jonas einst das größte Glück. Sie zog ihn in den ersten Lebensjahren regelmäßig mit auf, hütete ihn nach der Schule, war immer da. Heute ist Jonas 25 – und hat den Kontakt zu seiner Großmutter komplett abgebrochen. Für Hannelore ein stilles, tägliches Herzbrechen.
"Ich weiß nicht, was ich falsch gemacht habe", sagt Hannelore leise, während sie ein altes Fotoalbum auf dem Schoß hält. Auf fast jeder Seite: Jonas – lachend im Sandkasten, auf Omas Schoß beim Weihnachtsfest, stolz mit seiner Schultüte. "Wir waren unzertrennlich", erinnert sie sich. Doch seit über drei Jahren hat sie nichts mehr von ihm gehört. Keine Anrufe. Keine Nachrichten. Keine Besuche. „Es ist, als hätte er mich ausradiert.“
Der Kontaktabbruch kam schleichend. Nach dem Abitur zog Jonas für sein Studium weg, meldete sich seltener. Hannelore spürte eine Distanz, konnte sie sich aber nicht erklären. "Ich habe versucht, ihm Raum zu lassen. Aber irgendwann kam gar nichts mehr." Auch Briefe und Geburtstagskarten blieben unbeantwortet.
Was bleibt, ist Schweigen – und ein Schmerz, der mit den Jahren größer wird. „Ich wache manchmal nachts auf und frage mich: Habe ich ihn zu sehr geliebt? Oder nicht genug?“
Der Fall von Hannelore ist kein Einzelfall. Experten sprechen von einer zunehmenden Zahl sogenannter familiärer Kontaktabbrüche – häufig zwischen Großeltern und Enkeln, aber auch zwischen Eltern und erwachsenen Kindern. Gründe reichen von Lebensstilunterschieden über ungelöste Konflikte bis hin zu psychischen Belastungen. Oft bleibt das „Warum“ jedoch im Dunkeln.
Familientherapeutin Dr. Ulrike Reiter erklärt: „Jüngere Generationen haben heute ein anderes Verhältnis zu familiären Verpflichtungen. Sie fühlen sich nicht automatisch zu Kontakt oder Pflege verpflichtet – besonders wenn das Verhältnis in der Kindheit ambivalent war.“ Das müsse nicht bedeuten, dass eine Person „schuldig“ sei. Aber es zeigt, wie brüchig familiäre Bindungen sein können, wenn Kommunikation ausbleibt.
Hannelore hat längst aufgehört, Jonas zu kontaktieren. „Ich will ihn nicht bedrängen. Aber ich warte. Jeden Tag ein bisschen.“ Sie sagt das ohne Vorwurf, nur mit einer Traurigkeit, die schwer zu beschreiben ist.
Was bleibt? Erinnerungen, Fotos – und die Hoffnung, dass vielleicht doch noch ein Anruf kommt.
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