Pauline war lange Zeit überzeugt, dass etwas mit ihr nicht stimmte. Schon als Jugendliche begannen sich Gedanken in ihrem Kopf festzusetzen, die sie nicht abschütteln konnte. Gedanken, die sie immer wieder dazu drängten, Dinge zu tun, die sie eigentlich nicht wollte. Türen mussten immer wieder kontrolliert werden, um sicherzugehen, dass sie abgeschlossen waren. Hände mussten dutzende Male am Tag gewaschen werden, obwohl sie sauber waren. Diese Zwangshandlungen waren für Pauline der einzige Weg, die überwältigende Angst zu beruhigen, die von ihren Zwangsgedanken ausgelöst wurde.

Doch was von außen wie ein übertriebener Drang nach Ordnung und Sicherheit wirken konnte, war für Pauline ein innerer Kampf, der sie zunehmend beherrschte. Mit der Zeit bestimmten die Zwangsgedanken nicht nur ihren Alltag, sondern isolierten sie auch von ihrem sozialen Umfeld. Freunde und Familie verstanden nicht, warum Pauline sich zurückzog oder so seltsame Rituale entwickelte. Pauline selbst war verzweifelt. "Ich dachte, ich bin einfach nicht stark genug, diese Gedanken zu ignorieren," erzählt sie rückblickend.

Der Wendepunkt: Die Diagnose "Zwangsstörung"

Erst Jahre später, als Pauline nach einem besonders belastenden Vorfall ihre Arbeit nicht mehr fortsetzen konnte, suchte sie professionelle Hilfe. Der Psychiater, bei dem sie landete, stellte schließlich die Diagnose: Zwangsstörung. Für Pauline war diese Erkenntnis ein Wendepunkt. "Endlich wusste ich, dass ich nicht einfach 'falsch' bin. Es hatte einen Namen, und es gab einen Weg, damit umzugehen."

Eine Zwangsstörung (auch bekannt als obsessive-compulsive disorder, kurz OCD) ist eine psychische Erkrankung, bei der Betroffene unter zwanghaften Gedanken (sogenannten Obsessionen) und/oder wiederholenden Handlungen (den Zwängen) leiden. Diese Rituale dienen oft dazu, die belastenden Gedanken zu kontrollieren oder zu beruhigen. Doch der Teufelskreis aus Angst, Zwangshandlung und kurzfristiger Erleichterung verstärkt die Störung langfristig.

Paulines Diagnose brachte nicht nur Erleichterung, sondern auch Herausforderungen mit sich. Sie musste sich mit der Tatsache auseinandersetzen, dass sie an einer chronischen Erkrankung litt, die sich nicht einfach "wegmachen" ließ. Doch sie war bereit, etwas zu verändern.

Der Weg zur Besserung: Stationäre Therapie und neue Perspektiven

Nach der Diagnose entschied sich Pauline für eine stationäre Behandlung in einer spezialisierten Klinik. Dort lernte sie, was es bedeutet, mit einer Zwangsstörung zu leben – und wie sie die Kontrolle über ihr Leben zurückgewinnen konnte. Die Therapie bestand aus mehreren Bausteinen: Psychoedukation, Verhaltenstherapie und Gruppensitzungen mit anderen Betroffenen.

Ein zentraler Bestandteil der Behandlung war die sogenannte Exposition mit Reaktionsverhinderung (ERP). Dabei wurde Pauline schrittweise mit ihren Ängsten konfrontiert, ohne dass sie ihre gewohnten Zwangshandlungen ausführen durfte. Ein Beispiel: Statt ihre Hände nach dem Berühren eines vermeintlich schmutzigen Gegenstands zu waschen, musste sie die Angst aushalten, ohne zu reagieren. "Es war unvorstellbar schwer, aber es hat mir gezeigt, dass ich die Gedanken nicht erfüllen muss, um zu überleben," erklärt Pauline.

Auch die Gruppentherapie war für sie ein Schlüsselerlebnis. Zum ersten Mal traf sie auf Menschen, die ähnliche Erfahrungen gemacht hatten und ihre Gedanken nachvollziehen konnten. "Zu wissen, dass ich nicht allein bin, hat mir so viel Kraft gegeben."

Leben mit der Zwangsstörung: Akzeptanz statt Perfektion

Heute hat Pauline gelernt, mit ihrer Erkrankung zu leben. Sie ist nicht "geheilt" im klassischen Sinne, aber sie hat Werkzeuge an der Hand, um mit ihren Zwangsgedanken umzugehen, ohne dass sie ihr Leben dominieren. Regelmäßige Gespräche mit ihrer Therapeutin und Achtsamkeitsübungen helfen ihr, den Alltag zu bewältigen. Es gibt immer noch Tage, an denen es schwerfällt, doch Pauline weiß, dass sie nicht allein ist und dass Rückschläge Teil des Prozesses sind.

Ein wichtiger Schritt für sie war auch, ihr Umfeld über die Zwangsstörung aufzuklären. Freunde und Familie haben Verständnis entwickelt und unterstützen sie, wo sie können. "Es fühlt sich an, als hätte ich mein Leben zurückbekommen," sagt Pauline.

Ihr Appell an andere Betroffene ist klar: "Holt euch Hilfe, schämt euch nicht. Ihr seid nicht allein, und es gibt einen Weg, mit dieser Erkrankung zu leben."

Paulines Geschichte zeigt, dass eine Zwangsstörung zwar eine belastende Erkrankung sein kann, aber nicht das Ende bedeutet. Mit der richtigen Unterstützung und einer Portion Mut ist es möglich, ein erfülltes Leben zu führen – trotz der Herausforderungen, die sie mit sich bringt.

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