Ruth sitzt in ihrem kleinen Zimmer im Altersheim und blickt aus dem Fenster. Der Winterhimmel ist grau, und es scheint, als wäre das Leben draußen so still wie das in ihrem Inneren. Mit 77 Jahren lebt sie seit drei Jahren in dieser Einrichtung, umgeben von Menschen in ihrem Alter. Doch trotz der Gesellschaft der anderen Bewohner und der Bemühungen des Personals fühlt sie sich einsam. Nicht, weil niemand da wäre – sondern, weil sie das Gefühl hat, von niemandem gebraucht zu werden.

„Früher war ich immer in Bewegung. Meine Kinder, mein Mann, der Haushalt – ich hatte alle Hände voll zu tun“, erzählt Ruth. Ihre Augen leuchten kurz auf, wenn sie von ihrer Vergangenheit spricht. Sie arbeitete jahrzehntelang als Krankenschwester, zog drei Kinder groß und war diejenige, die immer zur Stelle war, wenn jemand Hilfe brauchte. Doch jetzt scheint all das weit weg zu sein. Ihre Kinder sind erwachsen, haben eigene Familien und besuchen sie nur selten. „Sie haben ihr eigenes Leben. Ich verstehe das, aber manchmal wünsche ich mir, dass sie mich mehr brauchen würden.“

Das Gefühl, nutzlos zu sein, ist für Ruth schwer zu ertragen. Sie beschreibt es als ein leises, nagendes Gefühl, das sie oft daran hindert, Freude an den kleinen Dingen zu finden. Die Tage im Heim folgen einer festen Routine: Frühstück, ein gemeinsames Gedächtnistraining oder Basteln, Mittagessen, ein wenig Bewegung im Garten, Abendessen. Dazwischen bleibt viel Zeit, die sie allein verbringt. „Es ist nicht so, dass ich nichts zu tun hätte. Aber ich habe das Gefühl, dass das, was ich tue, keine Bedeutung hat. Niemand wartet auf mich oder meine Hilfe.“

Ruth’s Geschichte ist keine Seltenheit. Viele ältere Menschen leiden darunter, das Gefühl von Sinn und Daseinsberechtigung zu verlieren, wenn sie in den Ruhestand gehen, ihre Kinder aus dem Haus sind und sie nicht mehr aktiv am gesellschaftlichen Leben teilnehmen können. Studien zeigen, dass Einsamkeit und das Gefühl von Nutzlosigkeit einen großen Einfluss auf die psychische und physische Gesundheit haben können. Dabei ist es nicht die physische Abwesenheit von Menschen, die Ruth am meisten belastet – es ist das Fehlen einer Aufgabe, die ihr das Gefühl gibt, wichtig zu sein.

„Ich weiß, dass ich nicht mehr alles machen kann wie früher. Aber ich habe so viel Erfahrung und Wissen. Manchmal wünsche ich mir einfach, dass jemand kommt und sagt: ‚Ruth, kannst du mir helfen?‘ Das würde mir so viel bedeuten.“

Im Altersheim versucht das Personal, den Bewohnern das Gefühl zu geben, gebraucht zu werden. Es gibt kleine Aufgaben, wie das Falten von Servietten oder das Eindecken der Tische. Doch Ruth sagt, das sei nicht dasselbe. Sie vermisst die tiefere Verbundenheit, das Wissen, dass jemand wirklich auf sie angewiesen ist. „Früher wusste ich, dass meine Arbeit wichtig war. Jetzt fühlt sich alles an, als würde es nur der Zeitvertreib dienen.“

Trotz allem gibt es auch Momente, in denen Ruth Hoffnung verspürt. Vor einigen Wochen hat sie begonnen, Geschichten aus ihrem Leben aufzuschreiben. Ihre Enkelin hatte sie dazu ermutigt. „Vielleicht werden meine Geschichten eines Tages jemandem helfen oder ihn inspirieren. Vielleicht ist das mein Beitrag.“

Ruths Wunsch, gebraucht zu werden, ist ein universelles menschliches Bedürfnis. Es erinnert uns daran, wie wichtig es ist, älteren Menschen Wertschätzung und Anerkennung zu geben – nicht nur durch Besuche oder Gespräche, sondern auch, indem wir sie in unser Leben einbeziehen und ihnen zeigen, dass sie weiterhin eine wertvolle Rolle spielen können.

Am Ende des Gesprächs blickt Ruth noch einmal aus dem Fenster. Die grauen Wolken beginnen sich zu lichten, und ein zarter Sonnenstrahl fällt in ihr Zimmer. Sie lächelt. „Vielleicht gibt es noch etwas, das ich tun kann. Vielleicht finde ich noch meinen Platz.“

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